Biblische Deutungen des Wüstenmotivs herausarbeiten (Aufgabe 1)

 

 

Den vier aus Exodus bzw. Deuteronomium gewählten Zitaten ist gemeinsam, dass es hier jeweils um Wüste in Bezug zu Gotteserfahrungen geht.

 

Die Aufgabe, unterschiedliche Akzentuierungen herauszuarbeiten, ließe sich sehr schnell bewerkstelligen: Das Wüstenmotiv könnte dann gedeutet werden als

 

Ort der Gottesbegegnung

 

Ort des Verderbens und der Auflehnung gegen Gott

 

Ort der Prüfung durch Gott

 

Ort der Bewahrung durch Gott

 

Es könnte sich aber auch lohnen, genauer hinzuschauen und nachzudenken. Dazu einige Hinweise:

 

Ex 3,1:

Die abgedruckte Übersetzung ist die der Zürcher Bibel. Interessant ist, dass die verschiedenen deutschen (und auch englischen) Übersetzungen teilweise „Wüste“, teilweise „Steppe“ übersetzen. Auch die Ortsangabe „über ... hinaus“ wird variabel wiedergegeben, z. B. „tief ... hinein“, „hinter“, „von ... hinauf“. Der hebräische Text scheint hier nicht sehr eindeutig zu sein bzw. in sich unterschiedliche Deutungen zuzulassen. Der „Wohnort Gottes“ ist nicht klar lokalisierbar, der Gottesberg vielleicht keine geografische, sondern eher eine mythische Größe. Was bedeutet es, wenn Gott jenseits der Steppe (des vom Menschen noch nutzbaren Landes) in der Wüste (dem Inbegriff von Leere und Lebensfeindlichkeit) oder sogar jenseits der Wüste (wo soll das überhaupt sein?) wohnt? Und warum begegnet Gott Mose nicht da, wo dieser sich noch sinnvoll mit seinem Kleinvieh aufhalten kann, sondern „dahinter“? Muss der Mensch in die „Wüste“, um Gott zu erfahren? Das Zitat kann dazu anregen, über Vorstellungen von Gottes-Orten nachzudenken und zu fragen, ob Gotteserfahrung Voraussetzungen braucht.

 

Ex 16,2 f:

Die Wüste wird hier von den Israeliten als Ort des Verderbens, der Qual, des Untergangs in Kontrast gesetzt zu Ägypten, dem Ort von Fülle und Wohlergehen. Allerdings hatten die Israeliten noch kurz zuvor genau umgekehrt empfunden – denn da war Ägypten Ort der Qual gewesen, metaphorische Wüste am Rande der geografischen Wüste. Die ägyptische Wüstenzeit, die hinter ihnen liegt, beginnt sich in der Erinnerung zu verklären (an den „Fleischtöpfen“ waren sie in Wirklichkeit nie gesessen), während das vor ihnen liegende Versprechen eines „Landes, in dem Milch und Honig fließt“ seine Kraft zu verlieren scheint. Vielleicht macht genau diese Bibelstelle deutlich, warum die Läuterung durch eine „Wüstenzeit“ notwendig sein kann: um zu einer realistischen Sicht der Vergangenheit und damit auch ihrer selbst und ihrer Zukunftshoffnung zu kommen.

 

Dtn 8,2:

Der zitierten Stelle vorausgegangen ist die Gabe der Zehn Gebote mit den dazugehörigen Ermahnungen als eine Ordnung von Freiheit und Freiwilligkeit („Bund“). Die Israeliten haben die Freiheit, die Gebote auch nicht zu halten; genau deshalb, weil Gottes Gebote auf freie Zustimmung angewiesen sind, ist die Prüfung und Bewährung notwendig, mit der sich die Israeliten als würdige Empfänger der Gebote erweisen sollen. Die Wüste wird zum Ort der Prüfung, aber damit auch der Erkenntnis und der Einübung in ein lebensförderliches Verhalten. Das Reizwort „demütigen“ kann hier ein Schlüsselwort sein – andere Übersetzungen schreiben „er wollte dir zeigen, wie sehr du ihn brauchst“ (Basis-Bibel), „demütig machen“ (Zürcher Bibel), „vor Augen zu führen, dass ihr ganz auf ihn angewiesen seid“ (Gute Nachricht), „damit ihr Demut lernt“ (Neue Genfer Übersetzung); es geht also nicht primär darum, die Israeliten / den Menschen kleinzuhalten, sondern um die Bestimmung der Relation Gott – Mensch. Hier lässt sich auch eine Querverbindung zu den Zitaten von Camus und Huxley auf S. 14 ziehen.

 

Dtn 32,10f:

Der Textausschnitt stammt aus dem „Lied des Mose“, das eine Art Vermächtnis des Mose an sein Volk vor seinem Tod darstellt, in dem er die wunderbaren Taten Gottes für sein Volk kontrastiert mit dem Abfall des Volkes von Gott, den Mose voraussieht (Rückprojektion aus der Königszeit / der Deutung des Babylonischen Exils) und der dazu führt, dass auch Gott sich abwendet. Die Bewahrung des Volkes durch Gott in der Wüste wird damit zur „exemplarischen Gotteserfahrung“ – Gottes „Vorleistung“ müsste eigentlich nur angenommen werden, Gottes Bewahrungshandeln zeigt sich gerade in „Wüstenzeiten“.