Nun, Gott, wie geht es Dir jetzt?
Sag nichts.
Ich weiß es.
Dir geht es mit uns Menschen, wie es uns Menschen mit Dir geht.
Wir, die wir nichts wissen, verstehen Dich nicht.
Du, der Du alles weißt, verstehst uns nicht.
Wie kannst Du das alles zulassen? - Wie könnt Ihr das alles tun?
Nun, Gott, wie geht es Dir jetzt?
Sag nichts.
Ich weiß es.
Vater, ich will Dich trösten.
Schau auf die Akropolis in Athen und den Stephansdom in Wien,
schau auf die Pyramiden in Ägypten und die Stadt Petra in Jordanien,
schau auf Paris, auf München, auf New York, auf Accra und auf Jerusalem,
schau auf die alle die Dörfer und die Städte, die kleinen und die großen,
schau auf die Autos, die Schiffe und die Flugzeuge,
schau auf die Raketen, die zum Mond fliegen, und auf die Sonden, die sich der Sonne nähern:
Es war nicht umsonst, uns den freien Willen zu schenken.
Schau auf die Theater, auf die Opernhäuser, auf die Konzerthäuser, auf die Orchester, auf die Sänger und Musiker, auf die Schauspieler,
höre, was Haydn und Mozart, was Beethoven und Schubert, was Verdi und Mahler, Britten und Orff und all die vielen komponiert haben, mit dem sie Freude schenken.
Schau auf Leonardo und Picasso, auf Dürer und Cézanne und van Gogh und all die anderen, die Deine Welt in Bilder fassen,
schau auf Aischylos, auf Shakespeare, auf Goethe und Schiller, auf Gogol und Tolstoi, auf Lasker-Schüler und auf Brecht (ja, auch auf ihn) und alle, die Deine Welt in Worte fassen,
schau auf Kopernikus und Galilei, auf Newton und Einstein, auf all die Physiker und Mathematiker, schau auf die Chemiker, die Deine unfassbare Welt erklären wollen, und schau auf die Lehrer, die lehren, Deine Welt zu verstehen:
Es war nicht umsonst, uns den freien Willen zu schenken.
Schau auf die Menschen, die anderen Menschen ihre Hände hinhalten, um sie aus den Fluten des Meeres zu retten,
schau auf die Menschen, die Wunden verbinden,
schau auf die Menschen, die Tränen trocknen,
schau auf die Menschen, die mit anderen Menschen das Brot brechen,
schau auf die Menschen, die Hoffnung spenden,
schau auf die Menschen, die lieben:
Es war nicht umsonst, uns den freien Willen zu schenken.
Doch geht es Dir, Gott, mit uns Menschen, wie es uns Menschen, mit Dir geht, so handle Du, der Du alles weißt, anders als wir Menschen, die wir nichts wissen, und wende Dich nicht ab von uns.
Sag nichts.
Denn aller Trost ist nur Trost.
Doch aller Trost und alle Liebe bist, Vater, Du.
Sag nichts.
Ich weiß es.
Edwin Baumgartner, Jahrgang 1961, ist Komponist und Feuilletonredakteur bei der Wiener Zeitung. Bei Claudius erschien von ihm Schmäh. Die Wiener Antwort auf die Dummheit der Welt (2018) und Wiener Wahn. Geschichten aus der Hauptstadt der Marotten (2020).