Wie geht es Gott?

von Martina Steinkühler

 

Seltsame Frage. Rückfrage: Wer weiß es? Ich persönlich reagiere mit innerem Rückzug, wenn mir jemand – Prediger oder Lehrende – glaubt mitteilen zu können, was Gott will, fühlt, denkt oder weiß. Und nun soll ich wissen, wie es Gott geht!? Ich weiß es nicht. Aber wenn es stimmt, dass das, was wir „Gott“ nennen, eine Projektion dessen sei, was wir „Ich“ nennen, dann kann ich mir denken: Gott geht es wie mir. Nur schlechter. Denn Gott weiß mehr vom Leben. Und besser. Denn Gott hat einen längeren Atem. Ich gehe diesen drei Optionen einmal nach. Probehalber. Und unter Vorbehalt. Denn wissen weiß ich es nicht. 


Gott geht es wie mir. 


In einem Glückskeks zum Einstieg in das neue Jahr fand ich folgenden Spruch: Wenn du etwas wirklich willst, dann musst du dich dafür einsetzen. Du brauchst dafür zweierlei: Mut und Geduld. Das hat mir gefallen. Wie weise sind die beiden Schlüsselwörter gewählt. Da ist die aktive Seite: Mut. Und wie oft träume ich und mache Konzepte. Und wie oft bleibt es beim Traum und beim Konzept, weil ich den Schritt in die Umsetzung dann doch nicht mache. Lieber warten. Da ist die passive Seite: Geduld. 
Wie geht es Gott? Da muss ich nur auf den Anfang schauen und auf heute. Am Anfang schuf Gott … – und es war sehr gut. Aus dem Zwielicht ins Licht, aus dem Alleinsein in die Geselligkeit. Ein mutiger Schritt, und Gott sagt sich: Gut ist es. 
Später – im Nu, aus Gottes Sicht: Es ist verdorben und schlecht. Es hat keinen Zweck mehr. Das muss weg! Ein zweiter mutiger Schritt? Aber Gott zeigt Reue. Zerstören ist leicht; doch keine Lösung. Und Gott lernt Geduld. Diese Geduld, die die Welt und das Leben noch immer im Gang hält. Wie lange währt göttliche Geduld? Wie lange hält Gott das aus? 


Mir geht es oft schlecht mit all dem, was Menschen auf der Erde anstellen. Und manchmal kann ich es vergessen und einfach nur staunen. Über das Leben und seine Möglichkeiten. So also, nach meiner Logik, so geht es Gott. 


Gott geht es schlechter als mir. 


Im Islam spricht man von Gott im Komparativ. Ja, wir denken Gott nach menschlichem Maß. Aber der Komparativ öffnet die Analogie nach oben und überbietet sie. Gott ist wie …, aber größer. Aber besser. Aber mächtiger. Vertrauenswürdiger. Treuer. Barmherziger usw. 
Denke ich nach dem heute journal: Angesichts des Unrechts und des Elends in der Welt geht es mir schlecht; dann wäre weiter zu denken: Auch Gott geht es schlecht angesichts des Unrechts und des Elends in Seiner Welt – und es geht Gott schlechter. 
„Du bekümmerst dich um die Pflanze, die gestern gewachsen ist und heute abgestorben – und hast doch nichts dazu beigetragen?“, fragt Gott seinen schmollenden Propheten. „Und ich sollte mich nicht bekümmern um eine Stadt mit so vielen Menschen, die alle meine Geschöpfe sind und die ich alle beim Namen kenne? Und um all die Tiere?“ 


Gott geht es schlechter als mir. Denn Gott ist involvierter. Und was, wenn er wirklich alle Gebete hört, wie Jesus es versichert? Auch die gegensätzlichen. Und wenn ihm dann die Hände gebunden sind, weil: Nicht immer besteht die Chance auf ein salomonisches Urteil. Wie furchtbar muss es Gott gehen zwischen Mut und Geduld. 


Gott geht es besser als mir.


Die muslimische Denkfigur führt natürlich auch in die andere Richtung. Kann ich das denken? Gestern Abend habe ich zwei Stunden lang eine Geschichte geschrieben. Ganz versunken, ganz hingegeben und hingegossen. Dann habe ich gut geschlafen, und heute Morgen habe ich sie wieder vorgenommen. Habe sie mir laut vorgelesen, und siehe: Sie ist, wie sie sein soll. Das geschieht, je älter ich werde, desto seltener. Aber wenn: Was für ein Glücksgefühl. 
Und Gott? Könnte er glücklicher sein? Mehr als „die Welt umarmen“ geht nicht, oder? Wenn alle glücklichen Gefühle zu ihm emporsteigen, nicht nur meine – alle: Wie geht es Gott? Glück in Potenz – oder gar nichts. Ich habe Jutta Bauers Geschichte  „Selma – oder was ist Glück?“  immer noch nicht verstanden: Ein Schaf auf der Weide, Selma; und Selma, gefragt, wie sie so lebt, zählt ihre Alltagsverrichtungen auf. Und Selma, gefragt, wie sie gern leben würde, zählt ihre Alltagsverrichtungen auf. Und Selma, gefragt, wie sie leben würde, wenn sie mehr Zeit und Geld hätte, zählt ihre Alltagsverrichtungen auf … 
Manchmal denke ich: Das ist wohl Glück in Potenz. Manchmal denke ich: Selma fehlt es an Fantasie. Und in Bezug auf Gott denke ich: Hier kommt der Kniff mit dem Komparativ an seine Grenzen. Ich kann nicht wissen, wie es Gott geht. Ich kann Gott nicht wissen. Ich glaube Gott, dass er anders ist. Wie geht es Gott!?


Es geht … 


Martina Steinkühler, Jahrgang 1961, ist promovierte Altphilologin, Theologin und Religionspädagogin. Sie arbeitet als Studienleiterin bei der evangelisch-lutherischen Kirche in Braunschweig. Bei Claudius veröffentliche sie als Herausgerberin die Unterrichtswerke Freiräume und Herausforderungen.